Die rosarote VR-Brille
Den Begriff Virtual Reality kennt man aus dem Gaming-Bereich oder der Science Fiction. Mittlerweile lassen sich virtuelle Realitäten aber überall finden – auch in der Berufsausbildung. Ergibt das Sinn?
An einer Maschine herumschrauben, die es gar nicht gibt. Einen Hotelgast an einer nicht existenten Rezeption einchecken. Etwas an die Tafel der Berufsschule schreiben, ohne das eigene Zimmer zu verlassen. Das alles ist in der modernen Berufsbildung von heute möglich – in der „Virtual Reality“, oder kurz einfach VR.
Mit dieser Technologie können Azubis einen virtuellen Raum betreten und dort mit ihrer Umwelt interagieren. Um dort hineinzukommen, brauchen sie nur die richtige Hardware, die sogenannten VR-Brillen. Einmal aufgesetzt kann man mit so einer Brille nicht etwa schärfer sehen, sondern blickt in direkt in eine neue Welt, die komplett oder teilweise am Computer in 3-D simuliert wird.
Das Prinzip wird neben Videospielen, Raumplanungsprogrammen und militärischen Simulationen auch in der Schule eingesetzt. Mithilfe von VR können junge Menschen zeit- und ortsungebunden wichtige Arbeitsschritte erlernen. So lautet die Hoffnung.
Digitale Rohrverstopfung
Wie das aussehen kann, sieht man am Beispiel der Innung Sanitär Heizung Klima (SHK) Köln. Hier lernen angehende Anlagenmechanikerinnen und -mechaniker, wie ein Waschbecken montiert wird, wo eine Heizung zu installieren ist und worin der Unterschied zwischen Brauchwasser und Abwasser liegt.
In der Innung wird standardmäßig zur VR-Brille gegriffen. Grund dafür ist ein Projekt, das fast so innovativ ist wie sein Name umständlich: Augmented Reality basierter Support für das Lernen im Sanitär-Heizung-Klima-Handwerk – gnädigerweise abgekürzt mit dem Akronym ARSuL. Die Kölner Handwerker in spe erhalten im Rahmen von ARSuL Tipps, Tricks und Unterstützung direkt auf ihre Datenbrille. Wenn sie beispielsweise versuchen, eine Rohrverstopfung zu beseitigen, werden in ihrem Sichtfeld die nächsten Arbeitsschritte eingeblendet, relevante Bauteile markiert und Zusatzinformationen aus dem Handbuch dargestellt.
Innungsobermeister Marc Schmitz kommentierte das Ganze zum Projektstart euphorisch: „Auf faszinierende Weise verschmilzt hier beim Arbeiten an Anlagen die Realität mit der virtuellen Welt mithilfe einer Datenbrille, aber auch über mobile Geräte wie Smartphones und Tablets. Einige Auszubildende haben es schon ausprobiert und waren begeistert.“
Virtuelle Illusion real geplatzt
Virtuelle Illusion real geplatzt
Ähnliche Begeisterung erhoffte man sich beim gastronomischen Bildungszentrum Koblenz (GBZ). Hier werden junge Menschen für das Hotel- und Gaststättengewerbe sowie die Tourismuswirtschaft ausgebildet. Am GBZ wurden drei niederschwellige VR-Lernpakete produziert, die seit vier Jahren Situationen aus den Bereichen „Rezeption“, Housekeeping“ sowie „Hygiene“ vermitteln. Das letzte Paket stellt beispielsweise die Arbeit in einer Küche virtuell dar und lenkt den Blick der Brillentragenden spielerisch auf verschiedene Stellen im Küchenfeld, die in puncto Hygiene besonders wichtig sind.Doch obwohl man sich in Koblenz viel versprochen hat, relativierte sich die VR-Euphorie im Laufe der konzeptionellen Entwicklung, resümiert Ester Pauly, Leiterin der Akademie für Ernährung und Kulinarik am GBZ. „Bei Auszubildenden dominiert der Spaß an der neuen Technik. Allerdings gibt es auch Hürden, denn Lernende benötigen neben einer VR-Brille auch Grundkenntnisse in der Anwendung spezieller Software. Für bestimmte Zielgruppen kann das zur Barriere werden – besonders wenn sie die VR-Welt im Rahmen des Selbstlernprozesses eigentlich zuhause betreten sollen.“ Mit der Ausbeute der neuen Technik sei man daher nicht hundertprozentig zufrieden, so Pauly. „Das Investment ist relativ hoch und die Zielgruppe, die wir dadurch erreichen, ist verhältnismäßig klein. Es dient eher der Unterhaltung als dem Lernen.“ Funktioniert VR also nur, wenn man durch die rosarote Brille schaut? Nein, sagt Pauly, der Erfolg gehe aber nur über einen ersten „Wow-Effekt“ hinaus, wenn man VR-Technik ganz zielgerichtet einsetzt und weiß, was damit erreicht werden soll. Ein passendes Lernkonzept sei das A und O.
Beispielsweise klappe das gut bei Auszubildenen mit Migrationshintergrund. „Menschen, die Deutsch nicht als Muttersprache kennen, können in einer Simulation ihre Sprachbarrieren leichter überwinden und den Einsatz der Sprache ohne Druck in Alltagssituationen erproben.“
Virtueller Berufstest vor der Ausbildung
Doch schon bevor das finale Lernkonzept geschrieben und der erste Azubi eine VR-Brille in der Berufsschule aufsetzt, können virtuelle Welten der beruflichen Bildung einen guten Dienst erweisen.
Wer heutzutage einer Karriere- oder Ausbildungsmesse einen Besuch abstattet, begegnet immer öfter derselben Situation: Junge Menschen mit VR-Brillen, die sich an den Messeständen hektisch umblicken. Sieht zunächst merkwürdig aus, hat aber Methode. Unter dem Druck, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen, werden viele Arbeitgeber kreativ und nutzen die VR-Technologie, um ihre potenziellen Auszubildenden in eine neue Realität zu entführen. So können die jungen Leute Ausbildungsbetriebe und Berufsbilder hautnah erleben. Und wem es virtuell gefallen hat, unterschreibt vielleicht auch einen ganz realen Ausbildungsvertrag.
Das bleibt auch nicht der Politik verborgen. In sächsischen Schulen können seit 2020 VR-Brillen zur Berufsorientierung ausgeliehen werden und insgesamt 15 Berufe virtuell angetestet werden, darunter Dachdeckerin, Milchtechnologe oder Tierwirt. „Virtual-Reality-Brillen helfen jungen Menschen auf ihrem Weg zum passenden Beruf. Sie stehen mitten im Fleischerbetrieb, an der Seite eines Notfallsanitäters oder als Dachdecker in schwindliger Höhe“, so Sachsens Kultusminister Christian Piwarz. Und das geht kinderleicht: VR-Brille aufsetzen, den gewünschten Beruf anklicken und anschauen. „Sie erhalten einen lebendigen Eindruck von Berufen, die sie aufgrund von Hygienebestimmungen oder Gefahrenlagen in der Realität nicht einfach ausprobieren können“, kommentiert Piwarz das Projekt.
Die Einsatzfelder sind also vielfältig. Doch egal ob VR-Technik vor oder während der Ausbildung zum Einsatz kommt: Richtig eingesetzt, können Berufsschülerinnen und -schüler mithilfe virtueller Realitäten praxis- und arbeitsplatznah lernen. Das sorgt für neuen virtuellen Durchblick in der beruflichen Bildung. Und das sieht man auch ohne Brille.
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